Boris Godunow (Urfassung von 1869) nach dem gleichnamigen Versdrama von Alexander Puschkin
Sergej Newski Secondhand-Zeit (Auftragskomposition der Staatsoper Stuttgart) nach Texten aus dem gleichnamigen Buch von Swetlana Alexijewitsch in russischer (Boris Godunow) und deutscher Sprache (Secondhand-Zeit)
Das Vergessen mag eine Gnade sein, aber wer sich nicht erinnern kann, ist verloren. Und so erinnert Modest Mussorgski an einen Krisenmoment der russischen Geschichte, ihren glücklosen Protagonisten Boris und das dem Zaren zujubelnde, ihn verfluchende, meist nur ausharrende Volk. Mussorgski zeigt auch, wie Geschichte geschrieben wird: Ein Mönch verfasst eine Chronik und hält dort die Ermordung eines Thronerben in Godunows Auftrag fest. Ganz gleich, ob der Kindermord Fakt ist oder Legende: Den Zaren bringen die Gespenster der Vergangenheit zu Fall. Wer schreibt Geschichte und in wessen Interesse? Und in welchem Verhältnis steht sie zur Wahrheit? Ist Erinnerung Fiktion? Für Swetlana Alexijewitsch liegt die Wahrheit im vielstimmigen Nebeneinander der Erfahrungen hunderter ungekrönter, anonymer „Held*innen des Alltags“, wie sie sie in ihrem Erinnerungsbuch Secondhand-Zeit dokumentiert. Der Komponist Sergej Newski setzt einige dieser Lebensgeschichten als musikalische Erinnerungssplitter zwischen Mussorgskis historische Tableaus. Sie sind exemplarisch für den Einbruch der Kriege um Macht und Ideale in Enklaven wie Liebe und Familie. Newskis Neukomposition verzahnt sich in BORIS mit Mussorgskis Oper von 1869 zu einer gemeinsamen Erzählung. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich entwirft Boris Godunow dabei als düstere Zukunftsvision eines neozaristischen Reichs mit maßgeschneidertem Geschichtsbild aber ohne Gedächtnis. In der kollektiven Amnesie flackern die Erinnerungen aus Secondhand-Zeit immer wieder auf. Wie Untote fahren die vor langer Zeit geträumten Träume und erlebten Enttäuschungen in die Menschen der Zukunft und geben ihnen ein Gefühl für ihr Gestern zurück.